Modernde Stämme liegen übereinander. Auf abgestorbenen Baumriesen gedeihen Moose, Flechten und Baumschwämme. Schließt man kurz die Augen, dann duftet der Wald fast wie eines jener alten Tropenhäuser, die sich die Regenten im vorletzten Jahrhundert errichten ließen – inklusive tropischer Palmen, Bananenstauden und viel feuchten Humus. Dieser Urwald wuchert an der Grenze Niederösterreichs zur Steiermark. Rothwald heißt das Gebiet, das sich südlich des 1.878 Meter hohen Dürrensteins erstreckt. Wenn Ökologen, Botaniker oder Förster diesen Namen hören, klingelt es in ihnen. Denn der Rothwald ist nicht einfach ein weiterer Forst des waldreichen Österreichs. Er ist auch nicht einfach ein geschütztes Stück Natur neben anderen auch. Der Rothwald ist einzigartig. Ein Mythos, nicht nur in Försterkreisen. Nicht umsonst fällt er als einziges Wildnisgebiet Österreichs in die oberste Kategorie der International Union for Conservation of Nature (IUNC).
Sonnenstrahlen blitzen zwischen den Baumstämmen hervor. Auf dem Waldboden wachsen Moose, Farne und Beerenstauden in hellem Grün. 50 Meter hohe Tannen-Giganten ragen auf und 400 Jahre alte Rotbuchen, deren Umfang fast drei Meter misst. Dazwischen drängen sich junge Fichten ans Licht. So sieht der mit Abstand älteste Wald Österreichs also aus. Seit dem Ende der letzten Eiszeit, vor zehntausend Jahren, ist der Rothwald in den niederösterreichischen Kalkalpen nie von Menschen genutzt worden. Das sehen Kenner allein schon den Pilzen an, die hier wachsen. Biologen können hier einen Wald studieren, der von den Auswirkungen der Forstwirtschaft verschont geblieben ist. Gerne wird dann auf den Nutzen des liegen gebliebenen Totholzes verwiesen, die Grundlage für den auffälligen Pilzreichtum der Gegend, der mehr als 600 (!) Großpilzarten umfasst. Darunter auch Arten, die österreichweit ausschließlich im Rothwald vorkommen.
Die Vielfalt der Pilze kommt keineswegs allein. Auf sehr feuchten und steilen Hängen stocken Hang- und Schluchtwälder oder sprießen längst rar gewordene Edellaubhölzer: Berg-Ahorn etwa, Esche oder Berg-Ulme. Auch der Unterwuchs breitet sich wie eine botanische Schmuckschatulle aus: Hochwüchsige Kräuter wie Alpendost, Eisenhut, Alpen-Ampfer oder Berg-Kreiskraut, und etwas höher: Silberwurz, Steinraute, Alpenquendel – alles da. Und auch die Fauna tritt fast vollzählig an: Braunbär und Luchs ebenso wie Rothirsch, Gämse, Schneehase, Bergmolch und Kreuzotter. Ganz oben zieht der Steinadler seine Kreise, lugt auf Auer-, Birk-, Hasel- und Alpenschneehuhn herab und wohl auch auf den seltenen Weißrückenspecht.
Ohne einen gewissen Albert Rothschild, der im Jahre 1875 die Weitsicht hatte, vom Menschen unberührt gebliebene Wälder vor dem forstlichen Zugriff zu retten, würde es diesen einzigartigen Wald nicht geben. Rothschild, der aus der im 19. Jahrhundert bedeutendsten europäischen Bankiersfamilie stammte, kaufte damals 13.000 Hektar des Gebiets. Rund 460 Hektar Fläche – das ist um einiges mehr als die Gesamtfläche von Wien – wurden als Kernzone erhalten und gelten nun als der größte echte Urwaldrest Mitteleuropas. Der Wald-Kreislauf von Wachsen, Altern, Absterben erfolgt ungestört – im dicht besiedelten EU-Raum eine Rarität.
Der Rothwald mag die letzte Jungfrau unter Österreichs Urlandschaften sein, er ist keineswegs das einzige Ökosystem, das sich im Laufe der Geschichte dem Zugriff des Menschen entziehen konnte. 441 Naturschutzgebiete decken heute 3,55 % der Bundesfläche ab, während die sechs Nationalparks zusätzliche 2,88 % Landesfläche belegen. Gerade Letztere kommen der Urlandschaft teilweise recht nahe. Hier herrscht noch natürliche Dynamik.